14.05.2014

Tod dem March of Progress

Ich hasse dieses Bild so sehr, dass es schwer ist in Worte zu fassen.
Ursprünglicher Link: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Darwin-chart.PNG#filelinks


Evolutionstheorie zu verstehen ist schwerer als viele Menschen annehmen.
Oberflächlich wirkt die biologische Evolution so, als würde sie stetig voranschreiten. Organismen "verbessern" sich und werden "immer komplexer". Moderne Industriegesellschaften sind stark mit dem Fortschrittsgedanken verbunden. Gesellschaften werden immer besser, Verarbeitungsprozesse effizienter. Alles geht stetig vorwärts. Schier unaufhaltsam scheint der menschliche Geist darin zu sein, wenn darum geht seine Lebensprobleme zu vernichten. Wie viel von diesen Gedanken lediglich materialistische Heilsversprechen sind und was davon der Realität entspricht, vermag ich nicht zu sagen. Doch kann ich etwas über die Gleichsetzung von industriellem Fortschritt und biologischer Evolution sagen.


Der "March of Progress" ist vermutlich das größte Verbrechen, was jemals in Bezug auf die öffentliche Darstellung der Evolutionstheorie begangen wurde.

Es stellt die Evolution des Menschen anhand einer linearen Kette dar. Von einem fast vierbeinig gehendem Vormenschen (im Original war die Ramapithecus, der mittlerweile zu Sivapithecus gehört und damit eher in näherer Verwandtschaft zum Orang Utan steht), über mehrere "Zwischenformen" hin zum modernen Menschen.
Vieles ist falsch an diesem Bild:

1. Die dargestellte Transition des von Quadrupedie zur Bipedie fand in dieser Form niemals statt und konnte so niemals stattgefunden haben. Halb aufrecht gehende Formen wären schlicht und ergreifend zu ineffizient in ihrer Fortbewegungsweise, als das sie Überlebensfähig gewesen wären.

2. Verlief die Evolution des Menschen (so wie die jedes rezenten Organismus und jedes zukünftigen Organismus) nicht geradlinig. Es gab Abzweigungen, Sackgassen und sogar vielleicht die nachträgliche Verschmelzung von separaten Linien.

3. Gibt es keine Richtung, keinen Endpunkt und keinen Sinn in der biologischen Evolution.

Man kann es Menschen nicht verübeln, wenn diese in der Evolution der Organismen eine Richtung sehen wollen. Viel zu sehr war die Evolutionstheorie selbst in der Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts verortet. Was mehr würde zeigen, dass der unaufhaltsame Weg in die Moderne der einzig wahre ist, als die Tatsache, dass unsere eigene Existenz aus einem solchen Prozess entstanden ist.
Das Problem an der Evolutionstheorie ist, dass sie unserer Art die Welt wahrzunehmen entgegenläuft. Wir leben in einer Welt, die von Effekt und Ursache definiert und von klaren Zielen und Absichten bestimmt wird. Warum es für viele Menschen unvorstellbar ist, dass alle Lebewesen nur das gegenwärtige Resultat eines zufälligen Auswahlprozesses sind, hat einfach damit zu tun, dass unsere Welt keinen Raum für ein solches Konzept hat.
Die Sprache ist der größte Feind eines Evolutionsbiologen, wenn es darum geht, diese zu erklären. Denn sie ist ebenso durchzogen mit intentionalen Formulierungen und Begriffen, die unsere Realität allerdings nur bedingt wiedergeben.
Wenn davon gesprochen wird, dass "Tiere ein Interesse hätte sich in einer bestimmten Art zu verhalten, da dies ihrer Fitness zuträglich sei", dann wirkt dies auf Außenstehende so, als würden Organismen in diesen Fragen rationale Entscheidungsprozesse durchlaufen.
Eigentlich ist damit jedoch gemeint, dass ein bestimmter Organismen unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Verhaltensweise zeigt, da in der Verwandtenlinie des Organismus ähnliche Verhaltensweisen zu höheren Fortpflanzungserfolgen geführt haben, was wiederum dazu führte, dass die genetischen Grundlagen für dieses Verhalten weitervererbt wurden.
Evolutionsbiologen, können den ersten Satz hören (oder lesen), und wissen, dass damit der zweite Satz gemeint ist. Außenstehende können dies nicht. Sie hören den ersten Satz und gehen davon aus, dass Organismen einen internen Rechenschieber besitzen mit dem sie permanent Kosten und Nutzen jeder Entscheidung abwägen.
So toll unsere Sprache auch ist, sie ist noch immer ein sehr unpräzise. Vor allem wenn es darum geht, Dinge zu beschreiben, für die sie nie gedacht war.

Die biologische Evolution wirkt für uns wie ein zielgerichteter, fortschreitender Prozess. Dabei ist sie es nicht. Sie ist ein zielloses herumtüfteln an bereits existierenden Strukturen. Was für den Moment funktioniert, egal wie Hirnrissig das Konstrukt auch manchmal erscheint (man werfe nur einen genauen Blick auf den Aufbau des Linsenauges eines Wirbeltieres*), wird beibehalten. Was nicht funktioniert verschwindet auf ewig. Wer darüber entscheidet ist willkürlich. In der Retrospektive und durch die Brillen unseres ewig nach Sinn suchenden Verstandes betrachtet, erscheint uns das Resultat dieses Prozesses stets zweckmäßig. Dies hat jedoch damit zu tun, dass alles was nicht zweckmäßig war, schon längst vom Angesicht der Erde getilgt wurde, bzw. nicht einmal die Chance hatte sich in nennenswerter Häufigkeit zu manifestieren.
Die Evolutionstheorie ist deshalb einem großen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, weil sie sehr häufig unpräzise erklärt wird. Wir, die wir über dieses Feld sprechen, müssen uns stets verdeutlichen worüber wir sprechen und so präzise wie möglich in unseren Aussagen sein.

Der March of Progress ist die Repräsentation eines kulturellen Selbstverständnisses. Die Evolution des Menschen sollte dieses Selbstverständnis als quasi-religiöse Instanz rechtfertigen.  Doch kann sie es nicht und sollte sie es auch nicht.
Wenn wir wollen, dass die Evolutionstheorie endlich aus ihrem ewigen Rechtfertigungsproblem entkommt, so müssen wir zunächst dafür sorgen, sie als das darzustellen was sie ist und sie nicht als Vehikel für unsere eigenen Hoffnungen und Träume zu missbrauchen.


*Unsere Photorezeptoren sind, bedingt durch ihren entwicklungsbiologischen Ursprung, verkehrt herum auf der Netzhaut platziert. Hinzu kommt noch, dass zwischen Rezeptoren und Linse noch Blutgefäße und Nervenfasern liegen. Wenn das Linsenauge eines Wirbeltieren das Resultat eines intelligenten Designers war, so muss dieser bei seiner Konzeption tierischen einen über den Durst getrunken haben.