24.10.2012

Fossilien reden nicht

[Dieser Post ist eine Reaktion auf Brian Switteks Post 'Ida Hands are Paleontologist Playthings'.]


'Fossilien reden nicht. ' Ich kann nicht sagen, wie oft ich während meines Studiums diesen Satz gehört habe. Lange Zeit habe ich nicht genau verstanden was das eigentlich heißen soll. Schließlich finden wir ja nur durch das Untersuchen fossiler Überreste vergangener Lebensformen heraus, wie wir und alle anderen Gegenwärtigen Lebewesen entstanden sind. In gewisser Art und Weise, 'sprechen‘'Fossilien also doch zu uns, zumindest, wenn wir ihnen die richtigen Fragen stellen, oder etwa nicht?



An dieser Stelle kommen wir bereits an ein Problem. Fossilien selbst sind nämlich stumm. Bislang hat noch kein Paläontologe ein Fossil gefunden, was ihm direkt und im perfekten Deutsch erzählt woher es kommt, welchem Taxon es angehört und wer denn seine Eltern bzw. Kinder waren. Das bedeutet, es hängt vom jeweiligen Forscher ab, welche Fragen er stellt um das Fossil zum ‚reden‘ zu bringen. Aber selbst dann, ‚spricht‘ das Fossil nicht zu einem, sondern spuckt einem einen ganzen Wust an verwirrenden Daten entgegen, die man dann im Rahmen eines theoretischen Grundgerüsts interpretieren muss. Es sind diese Interpretationen, die dann häufig in Geschichten umgebaut werden.

Wie wir es aus der Literatur und der Kunst im Allgemeinen kennen, hängen Interpretationen ganz stark vom jeweiligen Zeitgeist und auch von der jeweiligen Person ab. Zwei Personen können dasselbe Buch durchlesen und zu vollkommen unterschiedlichen Bewertungen kommen, was dieses Buch denn eigentlich aussagen will.

Gleiches haben wir in der Wissenschaft, nur mit dem Unterschied, dass wir hier an bestimmte Regeln gebunden sind, die verhindern, dass jede Interpretation zugelassen wird und das wir eine Reihe von Mitteln haben um herauszufinden, welche Interpretation denn nun näher an der Wahrheit liegt.

Trotzdem haben wir Debatten, vor allen wenn es um Fragen geht, die mit uns selbst zu tun haben.

Warum sonst scheint die Paläoanthropologie manchmal wie ein Kindergarten zu wirken in dem sich jeder mit jedem zofft?
Das Problem liegt jedoch nicht in den Debatten. Wissenschaft lebt von Debatten und dem konstanten Streben danach die Positionen anderer Personen zu widerlegen. Es sind diese Debatten, die es uns ermöglichen, zumindest theoretisch, näher an ‚die Wahrheit‘ zu kommen.

Nein, das Problem liegt in 'Interpretationen' die keinen Beitrag zu diesem ganzen leisten, sondern tatsächlich nur ‚Geschichten‘ sind.
Ich habe hier ja schon häufiger über ‚Ida‘ gemeckert, dem an sich sehr hübschen, fast vollständigen Primatenfossil aus der Grube Messen. Bislang habe ich jedoch noch keine einzige Publikationen von den ursprünglichen Beschreibern dieses Fossil gesehen, bei der ich nicht an die Decke gegangen bin.

So auch mit dieser hier:
Vor einigen Wochen wurde ein Artikel von Franzen und Kollegen (2012) publiziert, der sich sehr ausgiebig mit den Gründen auseinandersetzt, warum die gute Ida denn in den See in Messel geplumpst ist.

Ich zitiere einfach mal Auszüge aus dem Artikel, es ist wirklich herzzerreißend:

'The juvenile age of Ida of about 9–10 months, just having been weaned (Smith in Franzen et al. 2009), leads to the following scenario: Ida was climbing in the trees of the rainforest surrounding Eocene Lake Messel. At her age, she was no longer close to her mother but began to explore the surroundings. Suddenly, for some unknown reason, she lost her grip on the branches or twigs, and fell down, head first because of gravity [potzblitz! –meine Anmerkung]. When hitting the ground, she tried to protect herself, cushioning her fall with her front legs. It was her right hand that hit first, because it was this part of her body that was most severely affected by a high-speed trauma. The area of the wrist—not yet completely ossified— was severely injured and rammed upward. As a consequence, the forearm became somewhat abbreviated. […] Although the trauma eventually healed, pain and crippling would have forced Ida to stay from that time more or less on the ground. There, she fell victim to the same kind of dangers as other ground-dwelling animals. […]'

 (Franzen et al., 2012)

Ich spare uns allen jetzt mal das Ende dieser Geschichte, lasst mich nur sagen: Es ist wirklich herzzerreißend und liest fast wie ein Kriminalroman. Und hier komme ich zu meinem Punkt:
Wo ist der wissenschaftliche Wert dieses Beitrages? Was lernen wir neues über die Ökologie früher Primaten? Über ihre Systematik? Sind die Messelprimaten überhaupt als allgemeines Modell für die Primaten im Eozän zu benutzen? Was lernen wir über die Entstehung der Primaten an sich?
All dies sind Fragen, die man unter anderen mit Hilfe von der guten Ida angehen könnte, wenn man denn versucht diese Informationen aus dem Fossil herauszuholen.

Doch was bekommt man stattdessen? Eine Geschichte. Eine Geschichte, die sich wunderbar in billig produzierten Sachbüchern und Museumsbroschüren verwursten lässt in denen man nicht nur eine spannende Geschichte erzählen kann (‚die letzten Minuten im Leben von Ida‘), sondern auch noch so tun kann, als sei dies alles mithilfe ‚wissenschaftlicher‘ Methoden herausgefunden worden.

Was haben die Autoren eigentlich herausgefunden? Das Ida vermutlich ein gebrochenes Handgelenk hatte, aus irgendwelchen Gründen sehr gut fossilisiert wurde und das sie (so es denn wirklich eine ‚sie‘ ist, auch hier ist immer ein bestimmter Interpretationsspielraum vorhanden) nicht von irgendwelchen Raubtieren erbeutet wurde. Der Rest entspringt der Fantasie der Autoren und kann niemals wirklich herausgefunden werden.

Nicht nur, dass wir es hier mit einem wunderbaren Beispiel von ‚Möchtegern Wissenschaft‘ zu tun haben die eigentlich nur dazu geeignet ist, pseudointellektuellen Rentnern im Rahmen des Studium Generale das Gefühl zu vermitteln sie würden tatsächlich etwas faszinierendes lernen was sie später in ihren Bridgerunden erzählen könnten. Sie ist auch noch vollkommen wertlos, wenn es darum geht, sich mit wissenschaftlich relevanten Fragen auseinanderzusetzen. In keiner Art und Weise hilft uns das mögliche Wissen darüber wie Ida verreckt ist darin, herauszufinden wie sie, und ihre Artgenossen gelebt haben und wie deren Lebensweise im Kontext der allgemeinen Evolution der Primaten zu verstehen ist.
Ida ist ein wunderbar vollständiges Fossil, welches uns einen wunderbaren Einblick in die Morphologie und Evolution früher Primaten geben kann, wenn man es denn mal dafür benutzen würde. Doch dummerweise ist das Fossil in den Händen von Personen die anscheinend viel eher daran interessiert sind, das Fossil in bester Weise zu vermarkten, anstatt es für die Lösung tatsächlich wichtiger Fragen zu verwenden.

Fossilien reden nicht und sie erzählen uns auch nie Geschichten. Es sind immer Menschen die Geschichten erzählen. Es wäre nur manchmal wünschenswert, dass Menschen sich darum bemühen etwas langweiligere, dafür aber wichtigere Geschichten zu entwerfen, anstatt zu versuchen den Tod eines Fossils zu einem Kriminalfall zu stilisieren. Es sind solche Geschichten und die unfassbare Tatsache, dass es Leute gibt die diesen Schwachsinn interessant finden, die dazu führen, dass tatsächliches, wissenschaftliches Arbeiten immer mehr ins Hintertreffen gerät und man sich stattdessen darauf verlegt effektvolle, aber letztendlich vollkommen inhaltslose Arbeiten zu verfassen.


Literatur:
Franzen, J., Habersetzer, J., Schlosser-Sturm, E., & Franzen, E. (2012). Palaeopathology and fate of Ida (Darwinius masillae, Primates, Mammalia) Palaeobiodiversity and Palaeoenvironments DOI: 10.1007/s12549-012-0102-8